2023 07: Monatskommentar Juli

Veröffentlicht am 22.06.2023
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Pfr. Leo Tanner hat ein Buch mit dem Titel „Heilung der Lebensgeschichte, Gottes Wege sind gut!“ geschrieben, das jetzt herausgegeben wurde. Heilung ist für viele Menschen ein wichtiges Thema geworden, weil die seelischen Verletzungen immer mehr zunehmen. Auf seine Bitte hin habe ich ihm Unterlagen von meinen Heilungsgottesdiensten bei radio horeb zur Verfügung gestellt und das Vorwort geschrieben, das ich an dieser Stelle wiedergebe: Papst Franziskus führte am 27. November 2015 mit Jugendlichen im Kasarani-Stadion in Nairobi ein Gespräch. Einer fragte ihn: "Was für Worte haben Sie für junge Menschen, die keine Liebe in ihren Familien erfahren haben? Ist es möglich aus dieser Erfahrung herauszukommen?" Der Papst antwortete: "Überall gibt es verlassene Kinder, entweder weil sie nach der Geburt ausgesetzt wurden oder weil die Eltern sie verlassen und sie nicht die Liebe der Familie erfahren haben. Darum ist die Familie so wichtig. Schützt sie, schützt sie immer! Es gibt
nicht nur verlassene Kinder, sondern auch alte Menschen, die von niemanden besucht und geliebt werden. Wie kann man aus dieser frühen Erfahrung von Mangel an Liebe herauskommen? Es gibt dazu nur ein einziges Mittel: das zu tun, was ich nicht empfangen habe. Wenn du kein Verständnis erfahren hast, dann sei verständnisvoll mit anderen. Wenn du keine Liebe empfangen hast, dann liebe die anderen. Wenn ihr den Schmerz der Einsamkeit empfindet, dann geht zu denen, die einsam sind. Das Fleisch heilt man mit Fleisch. Darum nahm Gott Fleisch an, um uns zu heilen. Tun wir dasselbe mit den anderen." Die Antwort des Papstes ist weise und richtig. Der Mangel an Liebe gehört zum Gravierendsten, was ein Mensch erfahren kann. Ich denke dabei nicht an die eine oder andere Kränkung, sondern an eine schwere Erfahrung des Zerbrechens von Lebensperspektiven, einer tiefgehenden Enttäuschung, die uns im Innersten der Seele getroffen und verwundet hat. Eine solches Erlebnis hat in der Regel drei negative Folgen: Zunächst eine Traurigkeit, die ins Unbewusste hineingeht: „Warum werde ich nicht geliebt? Ich bin doch auch liebenswert!“ Dann Wut und Aggression: „Was fällt denen ein, mir das anzutun?“ Und drittens die Angst, für immer abgelehnt, nicht geliebt zu werden. Daraus ergeben sich in der Regel weitere seelische Verwundungen. Nach Papst Franziskus können Menschen mit einer solchen Erfahrung den heroischen Weg wählen, indem sie lieben, obwohl sie selbst nicht geliebt wurden. Dr. Stadtmüller, der frühere medizinische Direktor der AdulaKlinik, sagte in einer Sendung bei radio horeb, dass sieben bis acht Prozent der Menschen so handeln würden. Über 90 Prozent werden nach solchen Erlebnissen aggressiv und böse gegen sich selbst und andere. Sie geben den Hass, der in ihre Herzen gesät wurde, weiter oder er wendet sich nach innen und sie werden depressiv. Wer bei den Prozentzahlen nachrechnet, stellt fest, dass noch zwei bis drei Prozent übrig sind. Nach Dr. Stadtmüller sind das die Menschen, die nach der Ursache ihres Verhaltens fragen: „Warum bin ich so, wie ich
bin? Kann ich das ändern? Was mir etwa in der frühesten
Kindheit angetan wurde, war vielleicht gar nicht Absicht,
sondern ist aus einer Not heraus geschehen. Soll das nun
mein ganzes Leben bestimmen?“ Als ich vor 15 Jahren meine Lebensgeschichte aufarbeitete, hat mir ein Satz von Milton H. Erickson (1901–1980), einem der größten Psychologen unserer Zeit, viel geholfen: „Es ist nie zu spät, eine glückliche Kindheit gehabt zu haben.“ Diese
Aussage befremdet, denn die Kindheit ist doch vorbei und ich kann das Erlebte nicht mehr ändern. Doch alle Defekte, Festlegungen und Prägungen, die mich heute an dem Leben hindern, zu dem ich berufen bin, können gelöst und geheilt werden. Kaum jemand kam damit auf die Welt; in der Regel kamen sie erst später dazu. Damit Heilung geschehen kann, muss ich bereit sein, mich mit den Verletzungen meines Lebens auseinanderzusetzen, damit sie verarbeitet werden können – durch die Hilfe Gottes und fachkundiger Personen. Warum gehen die wenigsten Menschen diesen Weg? Einige, weil sie nicht wissen, dass Heilung möglich ist. Die Mehrheit jedoch deswegen, weil sie sich dagegen sträuben. Denn zu diesem Weg der Heilung gehört, sich mit sehr schmerzlichen Situationen erneut zu befassen, sie gleichsam nochmals ein Stück weit zu durchleben. Menschen, die diesen Weg gegangen sind und Heilung erfahren haben, werden für viele andere zu einer Quelle des Lebens. Sie verstehen deren Nöte und spüren ein Bedürfnis, auch anderen zu der Freiheit zu verhelfen, die ihnen selbst zuteilwurde. Das Buch von Leo Tanner ist eine Ermutigung, diesen Weg zu gehen, um so innerlich froh in der Freiheit der Kinder Gottes das Leben führen zu können. Die vielen Gebete und Heilungsgottesdienste bei radio horeb, die für mich immer ein besonderes Erlebnis darstellen, sind eine wertvolle Ergänzung hierzu. Nicht wenige Heilungszeugnisse, die wir erhalten haben, belegen dies.